Winterkrieg 1939: Finnen gaben dem Molotow-co*cktail seinen Namen - WELT (2024)

Die Brille mit den runden Gläsern liegt auf dem Tisch, als hätte der finnische Feldmarschall Carl Gustav Mannerheim sie gerade erst abgelegt. In der Ecke steht sein Sessel, dunkelblau, mit kupfernen Noppen. Doch die Pendel der Wanduhr stehen still, über die Bücher im Regal zieht sich eine dünne Staubschicht, und auf einer vergilbten Karte an der Wand erkennt man noch eine blasse rote Linie: die einstige Ostfront zwischen Finnland und der Sowjetunion.

Der Raum war einst Teil einer Kommandozentrale und ist heute Teil des Päämaja-Museo, des „Hauptquartiers-Museums“, im finnischen Mikkeli. 70 Jahre her ist es her, seit Mannerheim die Brille auf seiner spitzen Nase trug und seine Berater hier tagein, tagaus um den massiven Tisch versammelte: Der Winterkrieg zwischen Finnland und Russland bestimmt noch heute Fühlen und Denken der Finnen. So gibt es zum Jahrestag allerlei Veranstaltungen und die Menschen pilgern in die „Front“-Museen des Landes.

Allerorten ist vom „Wunder des Winterkriegs“ die Rede. Dabei sind es im Grunde gleich zwei: Es grenzte an ein Wunder, dass das kleine, unvorbereitete Volk dem übermächtigen Nachbarn 105 Tage standhielt. Das andere Wunder war der Zusammenhalt der Finnen untereinander.

Denn seit der Februarrevolution von 1917 – Finnland war bis dahin noch Großfürstentum der Russen – und dem folgenden Bürgerkrieg zog sich ein tiefer Riss zwischen „Roten“ und „Weißen“ durch das Land. Der Winterkrieg war erst das wirkliche Ende des Bürgerkriegs, der auf dem Papier schon 1918 geendet hatte.

Ende August hatten Hitler und Stalin einen Nichtangriffspakt mit einem geheimen Zusatzprotokoll unterzeichnet. Nach dem deutschen Angriff auf Polen war es im Herbst 1939 wieder ruhig in Europa. Das sollte nicht lange so bleiben. Finnland drohte dasselbe Schicksal wie den baltischen Staaten – die Vereinnahmung durch die Sowjetunion.

Als die Sowjets am 6. Oktober Finnland mit Gebietsforderungen unter Druck setzten, waren die ersten Auslandskorrespondenten alarmiert und reisten in den Norden. Bald folgten ihnen mehr als 300 Journalisten aus der ganzen Welt. Gebannt verfolgte man den Vorstoß der Sowjetunion und dann den erbitterten Kampf der Finnen gegen den riesenhaften Nachbarn, der sich selbst überschätzte.

Zunächst versuchten die Sowjets, eine Marionettenregierung aus finnischen kommunistischen Bürgerkriegsflüchtlingen zu errichten. Sie scheiterten. „Der gemeinsame Hass schweißte die Finnen zusammen“, sagt der Historiker Seppo Hentilä. Am 26. November inszenierte die Rote Armee dann im karelischen Mainila, unweit von Leningrad, einen Grenzzwischenfall: Sowjetische Truppen seien von finnischer Artillerie beschossen worden.

Als die finnische Regierung die Vorwürfe zurückwies, kündigte der sowjetische Außenminister Wjatscheslav Molotow den bestehenden Nichtangriffspakt. Die Zeitung Helsingin Sanomat titelte am 27. November: „Sowjets verhandeln weiter auf ihre Art.“

Ohne dass die Sowjetunion eine formelle Kriegserklärung abgegeben hätte, überschritt die Rote Armee am frühen Morgen des 30. November 1939 die Grenze in der karelischen Landenge, auf die Hauptstadt Helsinki ging ein Geschützdonner nieder. Am Nachmittag stellte Präsident Kyösti Kallio formell fest, dass sich das Land im Kriegszustand befindet. Die Sowjets wollte nichts weniger als das gesamte finnische Staatsgebiet zu besetzen.

Der Angriff traf die Finnen völlig unvorbereitet. Und die ganze Welt schaute mit angehaltenem Atem zu – denn die finnische Armee war nicht nur wegen der kleinen Bevölkerungszahl unterlegen. In den Jahren zuvor hatten besonders die beiden stärksten Parteien, die antimilitaristischen Sozialdemokraten und der sparsame Landbund, sich gegen ein größeres Militärbudget gestemmt.

Noch im August 1939 hatte Ministerpräsident Aimo Kaarlo Cajander sich damit gebrüstet, kein Geld für schnell veraltetes Kriegsmaterial verschwendet zu haben. Als die Sowjets am 30. November angriffen, trat Cajander zurück und hinterließ ein Desaster: Die finnische Armee bestand aus 250.000 Soldaten, hatte aber kaum automatische Waffen, nur hundert Panzerabwehrkanonen und 30 Panzer.

Und doch wurde aus dem geplanten Blitzfeldzug der Sowjets ein 105 Tage dauernder Krieg, an dessen Ende Finnland zwar schmerzhafte Gebietsverluste erlitt, aber seine Unabhängigkeit bewahrte.

Sowjets versinken im Schnee

„Vielleicht dachten die Sowjets, die Finnen würden sie mit Blumen begrüßen“, spitzt Historiker Hentilä die Fehleinschätzung Stalins zu. Doch das Hauptproblem war anderer Natur. 30 bis 40 Grad unter Null und zwei Meter Schnee – darauf war die Rote Armee nicht eingestellt.

Während die Benzintanks ihrer Panzer einfroren und die Soldaten auch mit Schneeschuhen im meterhohen Schnee versanken, waren die Finnen auf den Winter gut vorbereitet: Fast jede finnische Familie kann noch die vergilbten Schwarzweißbilder vom Vater oder Großvater vorzeigen – Soldaten in weißen Tarnanzügen auf schweren, hölzernen Langlaufskiern. Mit ihnen konnten die Finnen den Feind umzingeln.

Und sie besannen sich auf ein einfaches Mittel: Flasche, Benzin und Zündschnur wurden zur wirksamen Waffe gegen Panzer. Brandsätze kennt die Militärgeschichte seit Jahrtausenden. Doch im Winterkrieg bekamen sie erst einen Namen. Während die Sowjets das Land bombardierten, behauptete ihr Außenminister Molotow im Radio wiederholt, dass die die Flieger lediglich Nahrungsmittel und Brot für die hungernde Bevölkerung abwerfen würden.

Die Finnen nannten sie „Molotows Brotkörbe“ und erfanden das passende „Getränk“ dazu, das sie schon bald industriell fertigen ließen: Die staatseigene Firma Oy Alkoholiliike Ab, die heute als Alko weiterexistiert, schickte die co*cktails samt Streichhölzern paketweise an die Front, 450.000 Stück insgesamt. Heute kennt jeder sie als Molotow-co*cktail.

Die Sympathien aus dem Ausland waren auf der Seite der Finnen. Und doch eilte keiner zur Hilfe – aus verschiedenen Gründen. Deutschland lieferte anfangs sogar Waffen an die Sowjetunion. Schweden wollte nicht zum Schlachtfeld werden.

Mäßige Hilfsbereitschaft mit Hintergedanken

Und als Großbritannien und Frankreich zu Jahresanfang ihre Hilfe anboten, war es bereits zu spät: Man hätte bei Norwegen und Dänemark ein kompliziertes Gesuch zum Durchmarsch einreichen müssen – zuviel der Liebesmüh für die Westmächte, die eigentlich ganz andere Interessen verfolgten: Im nordschwedischen Kiruna lagerte Eisenerz, das zur Waffenherstellung nötig war. Und als Frankreich den Finnen ein Expeditionskorps von 50.000 Soldaten versprach, sagte der britische General Henry Royds Pownall: „Von den vier oder fünf Divisionen war nicht eine für Finnland bestimmt, vielleicht ein oder zwei Brigaden. Der Rest sollte die Eisenerzminen besetzen und halten sowie Schweden und Norwegen unterstützen. Ein unehrliches Geschäft.“

Mit der Hilfsofferte vom Februar 1940 waren zudem Stalin die Hände gebunden: Er wollte es sich mit beiden Seiten nicht verderben – ein Vorteil für die Finnen bei den folgenden Friedensverhandlungen. Am 13. März war es soweit. Nachdem die Rote Armee die Stellungen der Finnen durchbrochen hatte, endete der Krieg mit dem Friedensvertrag von Moskau.

Was wäre gewesen, wenn die Westmächte an der Seite Finnlands gegen die Sowjetunion in gekämpft hätten? Wäre der Zweite Weltkrieg ganz anders verlaufen? Darüber spekulieren Historiker bis heute. Immerhin herrschte damals schon Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien sowie Frankreich.

Klar ist, dass der Winterkrieg sich auf den Verlauf des Weltkriegs auswirkte. Er offenbarte Schwächen in der Roten Armee, die im Deutschen Reich zu einer folgenreichen Unterschätzung der militärischen Stärke der Sowjetunion beitrugen.

Seine Kriegsbefehle gab Oberbefehlshaber Mannerheim aus dem Hauptquartier in Mikkeli, das einst eine Schule war und heute Museum ist. Die Stühle waren teils aus den Klassenzimmern geholt, die Tische aus ungehobelten Brettern gefertigt.

Es sollte ja alles nur vorübergehend sein. Doch nur der Friede war vorübergehend. Schon ein Jahr später war die „beste Propaganda, die Finnland je hatte“, Geschichte. Die Finnen zogen wieder in den Krieg. „Notgedrungen als Hitlers willige Helfer“, sagt der Historiker Hentilä.

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